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18.03.2021
Kugel vom Lübbenauer Kirchturm offenbart ihr Geheimnis
Zwei Kartuschen, viele Jahrzehnte in einer Lübbenauer Kirchturmkugel aufbewahrt, sind nun geöffnet worden. Der Inhalt versetzte Kirchenratsmitglieder in großes Erstaunen.
Der große Altartisch in der Lübbenauer Nikolaikirche ist in dieser Woche für eine gute Sache zweckentfremdet worden. Mitglieder des Gemeindekirchrats nutzten ihn als Arbeitsfläche bei der Öffnung zweier Zeitkapseln, die vergangene Woche in der aufgeschraubten Kirchturmkugel gefunden worden sind. Sie wird samt Wetterfahne mit Kreuz derzeit in einem sächsischen Restaurationsbetrieb wieder hergerichtet und neu vergoldet.
Regelrecht gebannt vor Respekt standen die Kirchgänger um Pfarrerin Ulrike Garve um den Tisch herum, trauten sich erst gar nicht so richtig, die Behältnisse zu öffnen. Erste Überraschung: Die ältere Holzhülse mit der eingeschnitzten Jahreszahl 1813 verbarg in sich eine zweite Holzhülse.
„Eine Matroschka“, wurde gemurmelt. Sodann zog die behandschuhte Pfarrerin vorsichtig eine Dokumentenrolle hervor. Ein Dokument nach dem anderen wurde aufgerollt, geglättet und inspiziert.
Mehrere Handschriften mit formschön geschwungenen, mitunter aber stark ausgeblichenen Buchstaben waren kaum entzifferbar. Auf einer waren wohl die Namen der damaligen Magistratsratsmitglieder der Nachwelt hinterlassen.
Wilddieb per Wochenblatt von 1873 gesucht
Ehrfürchtig werden ließ die Kirchratsmitglieder der Blick auf die noch gut erkennbaren Jahreszahlen.1778 stand auf mehreren Schriftstücken und sogar 1760. Erbaut worden ist die Kirche 1738 bis 1741.
Recht gut zu lesen war ein beigelegtes Wochenblatt von 1873. Unter anderem war darauf eine „Bekanntmachung“ abgedruckt, laut der 5 Thaler Belohnung denjenigen erwarten, der Hinweise für die Überführung eines Wilddiebs geben kann. Im Bürgerwalde wurde ein Reh erlegt. Auch auf die Vorstellung des Circus Blumenfeld & Straßburger, „bestehend aus 25 Personen und 30 Pferden“ wird auf dem Blatt hingewiesen und auf den Verkauf von Torf aus Altzauche, 2 Thaler das Klafter.
Mitglieder des Lübbenauer Gemeindekirchenrates im Altarraum der Nikolaikirche mit den vorgefundenen Dokumenten. Foto: Daniel Preikschat
Zu ebener Erde auf dem Kirchplatzpflaster abgelegt, sah man erst so richtig deutlich, wie angegriffen die Bekrönung ist. Die Kugel – eher ein großes Ei mit 1,20 Meter Durchmesser – ist völlig ausgebleicht, ganz weiß und nicht mehr goldfarben.
Wie wertvolle Schätze trugen Pfarrerin Ulrike Garve und Peter Berger vom beauftragten Architektenbüro die Kartuschen in die Kirche. Sie wurden am Mittwoch noch nicht geöffnet. Zur Bekrönung sagt Berger: „Die Teile werden gereinigt und mehrfach grundiert, Kugel und Wetterfahne mit Blattgold belegt.“ Darüber hinaus werde der Kirchturmschaft um 60 Zentimeter verlängert, damit die restaurierte Bekrönung eleganter in die Höhe ragt.
Alle Dokumente kommen wieder in die Kartusche
Alle Dokumente, erklärte Ulrike Garve, werden inventarisiert, später wieder in der Kartusche verschlossen und in der restaurierte Kugel verwahrt. Wer weiß wann und warum werden Nachfahren der Nachfahren die Kugel erneut vom Kirchturm holen.
Ebenfalls inventarisiert wird der Inhalt der zweiten größeren und schachtelförmigen Kartusche aus Kupferblech, die im Jahr 1985 in die Kugel kam. Ein Jahr zuvor, im Mai 1984 brannte nach einem Blitzeinschlag die Spitze des Kirchturmdachs. Die Bekrönung musste demontiert und restauriert werden. Ein Foto vom Brand lag mit in der Zeitkapsel.
Zudem fanden sich weitere Aufnahmen von der Kirche, Gruppenfotos sowie ein Panoramafoto von der Altstadt. Die Fotos wurden offenbar vom Kirchturm aus gemacht, mehrere Abzüge zusammengesetzt und auf einer Ziertapete befestigt.
Konfirmanden kritisieren zu harte Kirchenbänke
Weiter stießen die Erforscher der Kartuschen auf etliche Briefe, Schreiben, Plakate und Postkarten, die mit der Nikolaikirche zu tun haben. Ganze Mappen lagen bei. Für Schmunzeln sorgten Fragen, die damals an Konfirmanten gestellt wurden: „Was missfällt euch am kirchlichen Leben?“ Antwort: zu lange Gottesdienste, zu harte Kirchenbänke.
Aus einem Schreiben an die Gemeindeglieder von Pfarrer Gottfried Vetter vom 14. Oktober 1985 ging hervor, wie festlich die Lübbenauer das Wiederaufsetzen der restaurierten Turmbekrönung begangen haben. Offenbar blies damals während des Arbeitseinsatzes der Posaunenchor Choräle. Zum Abschluss der Turmarbeiten spielten Mitglieder des Landesorchesters Dessau, mit Bachpreisträger Michael Schönheit an der Orgel, Werke von Georg Friedrich Händel.
Selbstbewusst schrieb Pfarrer Vetter damals: „Wir werden den Eindruck haben, dass Händel diese Musik eigens für die Nikolaikirche Lübbenau geschrieben hat.“
Überschriften auf Zeitungsseiten der Lausitzer Rundschau, die in der Kartusche ebenfalls Platz fanden, zeigten, wie angespannt damals die politische Lage war. „Für die Beseitigung der nuklearen Gefahr, für eine Wende zum Besseren in Europa und in der Welt“ wurde in der Ausgabe vom 24. Oktober 1985 auf Seite eins getitelt. Im Text ging es um eine Erklärung der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages.
40 Blatt Gold aus dem Westen sind verschwunden
Interessant anzusehen waren auch die vielen kleinen Gegenstände, die damals in die Zeitkapsel gegeben wurden und alle eine Geschichte zu erzählen haben: eine Kohlenfaden-Birne zum Beispiel, die 1984 im Turmaufgang gefunden wurde, oder ein Umschlag mit kleinen Brandresten vom Kirchturmdach.
Nicht mehr im Umschlag hingegen waren 40 Blatt Gold mit den Maßen elf mal elf Zentimeter, die ein Freund der Stadt Lübbenau damals aus Westdeutschland per Einschreiben geschickt hatte.
Ausstellung der Krone in der Kirche in Lübbenau
Wie soll man das noch toppen? Pfarrerin Ulrike Garve und die Mitglieder im Gemeindekirchenrat wissen noch nicht, was sie selbst in ihrer dritten Zeitkapsel verschließen werden.
Es sei aber auch noch ein bisschen Zeit, sich das zu überlegen. Voraussichtlich im Mai kommt die restaurierte Bekrönung inklusive der Kugel mit den Kartuschen wieder auf die Kirchturmspitze der Lübbenauer Nikolaikirche.
von Daniel Preikschat, erschienen in der Lausitzer Rundschau